Halb vier Frühstück, vier Uhr Start. Wer verpennt, bleibt hier!“ Völlig klar, dass Dirk seine Drohung wahr machen würde, denn bei unserem geballten Plan zählt jede Minute Tageslicht. Die fünf legendären Lago-Downhills an einem Tag.
Die fünf legendären Lago-Downhills an einem Tag. Als uns Dirk vor einer Woche in München von seiner Idee erzählte, rückten alle sofort näher an den Tisch. Mit leuchtenden Augen folgten wir seinem Finger, der schwungvoll über die Landkarte strich. Schließlich schloss er mit dem Satz: „Und für diese Aktion gibt es nur einen Tag im Jahr: den 21. Juni, den längsten Tag des Jahres!“
Von der Euphorie der vergangenen Tage ist jetzt in Marcellos Shuttlebus nichts mehr zu spüren: Wortlos schaukeln wir im Morgengrauen durch die leeren Straßen von Riva. Karens Kopf baumelt am Hals und sinkt nach ein paar Kurven langsam an meine Schulter. Auch Sam und Marco schlafen. Markus, Niels und ich beobachten, wie das Licht die ersten Konturen ins Monte Baldo-Massiv zeichnet. Nur Dirk hantiert auf dem Beifahrersitz mit seinen Foto-Objektiven.
TREMALZO: Um kurz vor sechs rollen wir aus der Dunkelheit des Tremalzo-Tunnels ins gleißende Morgenlicht. Der kalte Nordwind bläst Gänsehaut über meine Arme. Doch das berühmte weiße Schotterband strahlt uns an wie eine Lichterkette, die uns im Zick-zack-Kurs zum See hinunter leuchtet. Los geht’s! Der Schotter prasselt unter den Reifen. Kurve um Kurve driften wir die alte Militärstraße hinunter. Bodenwellen nehme ich im Sprung, Marco zirkelt vor mir um die groben Felsklötze. Niels schießt an mir vorbei, reißt in voller Fahrt den Lenker um 180 Grad herum. Immer wieder. Dann sehe ich ihn ohne Rad durch die Luft fliegen – eine Staubfontäne jagt hinter ihm her... Untergrund-Wechsel am Passo Nota: auf samtweichem Waldboden kurven wir den kilometerlangen Traumpfad zu unserem ersten Etappenziel, Pregasina, hinunter.
ADRENALINA: Zehn Uhr, wir lassen uns wieder in den Bus plumpsen. Alle reden durcheinander, Niels untersucht seine Beine nach Schürfwunden. Auch unser Fahrer Marcello ist jetzt wach und versucht die Kurven so sportlich wie möglich zu nehmen. Der Adrenalina-Downhill: Die Abfahrt ist so legendär, wie gefährlich. Und material-mordend. Die schier endlose Erosionsrinne führt oft halsbrecherisch am Abgrund entlang. Lose, aber auch messerscharfe Felsbrocken lauern darauf, die Reifen aus der Spur zu reißen und aufzuschlitzen. Hier ist Fingerspitzengefühl und Gleichgewicht gefragt. Markus bezahlt einen Drop sogar mit einem geplatzten Dämpfer. Unrhythmische Richtungswechsel und Schwimm-Schotter geben uns schließlich den Rest. Als wir den Asphalt erreichen, prickelt mein ganzer Körper von der Rüttelei. Langsam rollen wir vor die Meckibar. Mary empfangt uns vor der Tür, reißt lachend die Arme hoch: „Ciao, ciao! Ich macke Toast Speciale für alle!“ Während wir essen, bringen die Schrauber unsere Bikes wieder auf Vordermann.
MONTE STIVO: Mein voller Bauch drückt mich jetzt deutlich tiefer in den Bussitz. Auch die Köpfe in der Sitzreihe vor mir sind hinter den Lehnen verschwunden. Dabei ist es erst 14 Uhr. Als ich die Augen wieder aufreiße, parkt Marcello gerade vor einem meiner Lieblingstrails: Monte Stivo – 1000 Höhenmeter feinster Waldkurven-Spaß! Schnell die Räder vom Dach, jeder will der Erste sein. Die Reifen surren über den Waldpfad, ein paar Äste knacken. Licht, Schatten, Licht, Schatten – die Sonnenstrahlen, die sich durch den Wald bohren, wirken in voller Fahrt wie Stroboskop-Licht in der Disco. Kurze Schotterpassage, Vorsicht: Steilstufe! Pfffft... Markus hat schon wieder einen Platten. Fünf Minuten Pause. Schade, dabei waren gerade alle wieder auf Hochtouren.
DOSSO DEI ROVERI: Knapp eine Stunde dauert der Shuttle von Bolognano zum Altissimo. Marcello kurvt bis auf 1200 Meter hinauf und bleibt abrupt stehen: sieben müde Köpfe nicken nach vorne. „Aufwachen!“ , kräht Marcello. Kichernd stolpern wir aus dem Auto. Eine Mischung aus Erschöpfung und Albernheit macht sich breit. Dirk tippt auf die Uhr: „Gleich halb sechs!“ Wo sind meine Handschuhe? Als ich mich in den Sattel schwinge, sind die anderen schon weg. Schnell hinterher. Rechts gibt‘s immer wieder herrliche Aussichten auf den Gardasee, aber dafür habe ich jetzt kein Auge frei. Mein Tacho zeigt 45 an, die anderen müssen verdammt schnell sein. Ich kann sie hören, Niels scheint richtig Spaß zu haben. Sicher legt er in den Anliegern wieder ein paar Extra-Stunts hin.
MONTE BALDO: 21 Uhr: Die Sonne ist untergegangen. Die Rocchetta-Felsen stehen bereits wie eine bleierne Wand über dem Westufer des Sees. Nur der Himmel leuchtet noch hellblau über den Gipfeln und schickt uns ein paar rötliche Schlierenwolken herüber – zu unserem finalen Run vom Monte Baldo. Unser Pfad schneidet den Berg etwa auf halber Höhe. Die Schotter-Steine leuchten noch ein bisschen und ich komme mir vor wie Hänsel, der im finsteren Wald seinen Brotkrummen folgt. Jetzt der Forstweg über den Almen. Mein Vorderrad kippt plötzlich weg – in der Dunkelheit kommt mir der Weg viel steiler vor. Der Lenker schlägt mir unkontrolliert entgegen, die groben Wackersteine sind jetzt einfach schlecht vorauszusehen. Hier Kurve! Nein, doch nicht. Irgendwo unter mir höre ich Äste knacken, Sam flucht. Etwas greift nach meinen Speichen – keiner kommt ohne Sturz davon. „Das ist ja wie Topfschlagen mit verbundenen Augen!“ Ich bin froh, dass Karen noch lachen kann.
Dann Lichter, Leuchtreklame: Navene. Wir haben es geschafft. Marcello empfängt uns mit jeder Menge Bierdosen. Die Bilanz: 70 Kilometer Downhill, 7000 Höhenmeter insgesamt. Aber auch über 1000 Höhenmeter Gegenanstieg. Marcello saß 17 Stunden im Auto und hat 270 Kilometer mehr auf dem Tacho. Ein Wahnsinnstrip. Prost!„