Immer wenn ich am Lago bin, jedes Mal wenn ich aufwache und zum Fenster hinausschaue um zu sehen, wie das Wetter ist, kommt es mir unmöglich vor, dass ich in ein paar Stunden mit meinem Mountainbike in solch eine Höhe fahren werde, gleich hoch wie die Gipfel, die mich umringen.
Auf der Karte sind es 1500 Meter Höhenunterschied, eine normale Zahl, die nicht weiter beunruhigt. Wenn man es jedoch in Stunden und Minuten umrechnet, in den Verbrauch von Energieriegeln, die man benötigt, um an den Gipfel zu kommen und der Menge an Trinkwasser, schläft man darüber ruhig ein, indem man schon im Voraus das schöne Müdigkeitsgefühl spürt, das man haben wird, wenn man am Abend die ganze Tour gefahren ist. Erst wenn man bei der Auffahrt ist und man schaut auf den Höhenmesser hat man wirklich das Gefühl wie viel Mühe notwendig ist, um sich diese 1500 Meter zu verdienen. Tritt um Tritt, Minute um Minute, Energieriegel um Energieriegel. Wenn der Schweiß in Bächen über den Körper läuft und der Hintern auf dem Sattel brennt, denke ich wieder an den morgendlichen Blick aus dem Fenster und versuche mir vorzustellen, wie viel an Strecke noch fehlt, um auf den Berggipfel zu gelangen, der bis vor kurzen einfach nur ein Name war, mit einer Nummer daneben, die die Höhe angab.
Ich befinde mich jetzt beim Aufstieg, der vom Ledrotal auf den Rifugio Pernici führt. An einem Septembernachmittag, ganz alleine mit meinem Mountainbike inmitten dieser Wälder, die scheinbar von Gott vergessen wurden. Ich trockne mein nasses Gesicht und stehe häufig auf, um dem Brennen zu entgehen, das durch den zu harten Radsattel verursacht wird. Diesen hab ich leider gestern ausgetauscht, denn mein alter Radsattel war verbraucht.
Die Auffahrt scheint nicht enden zu wollen, wie alle alten Militärstraßen schlängelt sich diese in unzähligen Kehren. Sie verläuft meist immer gleich steil und bietet keine Ebenen, in denen ich mich etwas erholen könnte. Nachdem ich keine Weggefährten bei meiner Biketour habe, mit denen ich sprechen und damit etwas die Mühe verringern könnte, suchen meine Augen ständig nach einem Zeichen, dass die Auffahrt fast zu Ende ist. Ein typischer Moment, in dem man in Trance verfällt, wenn man intensiv an etwas denkt, das einem die Anstrengung vergessen lässt. Ich denke daran wie ich am Morgen das Fenster des Hotels Santoni in Torbole öffne, Richtung Riva del Garda schaue, zum Felsen hinauf und dann noch mal höher bis zum Gipfel dieser Felswand über dem Städtchen und dann entscheide mit dem Mountainbike da hinauf zu gelangen.
Natürlich ist es nicht möglich direkt auf zwei Rädern den Berg zu erklimmen. Die Idee da hinauf zu gelangen bedeutet über das Ledrotal zu fahren und den Rifugio Pernici zu erreichen, der hinter dem Felshang liegt, den ich vom Hotel aus bewunderte. Aber der Höhenunterschied stimmt und der Hang ist genau so wie ich es mir erwartet habe. Es gäbe die Möglichkeit des Shuttlebusses, in einer Dreiviertelstunde wäre ich am Berggipfel ohne auch nur einen Schweißtropfen vergossen zu haben. Ich könnte eine Abfahrt zum See genießen und dann wieder zum Abendessen in Torbole eintreffen. Aber das ist nicht das Gleiche! Eine Abfahrt, die man sich vorher im Schweiße seines Angesichtes verdient hat, hat etwas Besonderes für sich. Diese genießt man Meter um Meter, man will sie kein bisschen abkürzen, man wird beinahe verbissen beim Radeln, um ja nicht ein Stück zu verpassen. Mit dieser Einstellung war ich heute am Morgen gestartet, in einem beinahe zölibatären Geist.
Wenn die Route des Tremalzo die meridionale Seite der an das Ledrotal angrenzenden Berge zeigt, so dringt man auf dem Weg, der von Riva del Garda auf den Rifugio Pernici führt, in die Trientner Seite dieser Region im Norden ein. Die Anfangsstrecke der beiden Trassen ist in den ersten Kilometern identisch, indem man die legendäre Ponalestraße fährt, die im letzten Jahr wiedereröffnet wurde. Ein wahrhaft spektakuläres Panoramaerlebnis auf dem Gardasee Plateau. Das Ledrotal wird in seiner ganzen Länge geduldig hinaufgefahren ohne größere Strapazen und fast immer fern vom Verkehr. Man passiert die steile und felsige Schlucht, die den Kontrast bildet zu den folgenden Wiesen unterhalb Molina di Ledro, bevor man den Ledrosee erreicht. Hier kann man in den warmen Tagen in den See eintauchen, um sich vor der langen Auffahrt zum Rifugio zu erfrischen. Es ist eine Badelust, der man nicht widerstehen kann, da die Route auf der linken Seite des Sees verläuft, mit verführerischen Abkürzungen zum See. Natürlich ist der Genuss vor der harten Arbeit nicht jedermanns Sache. Besonders wenn man weiß, was einem erwartet und wo ich mich nun befinde, inmitten der Militärstraße, die zum Rifugio Pernici führt.
Ich erwache aus dem Trance und sehe, dass die Straße aus dem Wald hinausführt und in schöne Bergwiesen vordringt. Der Duft der Bäume wird von jenem des Grases und der Weiden abgelöst. Die Sicht wird weiter und eine Schotterstraße ersetzt die Asphaltstraße. Ich bin fast auf dem Gipfel angelangt, meine Motivation steigt gleich wie meine Geschwindigkeit. Noch 20 Minuten und ich befinde mich am Beginn der Abfahrt bei der Bocca di Trat. Das Leiden hat ein Ende, jetzt kommt die Freude Kilometer um Kilometer zu genießen. Das denkt man zu Beginn, bevor man das Vorderrad auf das Monster von Schotterstraße gesetzt hat, die zur Grassi Alm hinunterführt. Steine, die auf alle Seiten spritzen, ein unsicheres Gleichgewicht, schwierig dem Gefälle standzuhalten. Man muss sich daran gewöhnen, dann gewöhnt man sich an den Rhythmus und man lässt das Bike frei in der „Musik“ des Gardasees schwingen. Ein einmaliges Erlebnis, dass ein gutes Gespür voraussetzt, um sich anzupassen. „Rock an roll, baby!“ würde ein Star sagen. Die Bremsscheiben zischen, die Gabel arbeitet auf Hochtouren, die Augen sind geweitet und überaktiv um am besten die endlosen Hindernisse zu überwinden. Das ist Mountainbiking! Ein Glücksgefühl befällt mich, Adrenalin fließt in Strömen durch meine Adern. Das ist das, was ich mir gewünscht habe, als ich heute morgen aus dem Fenster sag. Ein perfekte Belohnung für die 1500 Meter Höhenunterschied im Aufstieg, die ich hinter mir habe.
Als ich auf der Grassi Alm ankomme, wird das Gefälle ebener, zumindest für ein kleines Stück. Dann beginnt wieder das Übliche mit einem großen Finale aufgrund der zementierten engen Straße, die zum Bastione in der Höhe über den Dächern von Riva del Garda führt. Eine wirklich bizarre Aussicht. Man meint förmlich, dass man in die Schlafzimmer der Einwohner fährt. Zahlreiche Serpentinen führen in die Zivilisation hinab. Die Häuser sind noch von den Bäumen verdeckt, aber die Geräusche des kleinen Ortes werden immer hörbarer um dann ganz die Musik meiner Mountainbike Tour zu überlagern.
INFO TRAIL
Höhenunterschied: 1520 m
Kilometer: ca. 45
Schwierigkeit: *****
Beste Zeit: Mai - November
Route: Riva del Garda – alte Ponalestraße – Molina di Ledro (den ausgeschilderten Radweg folgen) – Ledrosee (am linken Ufer bleiben, nicht auf der Landstraße) – Enguiso – Bocca di Trat (hier immer auf der Straße bleiben, die zum Rifugio Pernici führt, zuerst asphaltiert und dann Schotterstraße. Jede Wegabzweigung ist zu ignorieren, da sie aufwärts nicht fahrbar ist) – Malga Grassi – Campi – Riva del Garda (an Bastione vorbei)